Heinz Schütz : LIFTARCHIV
Archive dienen der Aufbewahrung von öffentlichen Urkunden und Dokumenten.
Die Etymologie von Archiv weist auf das griechische archeion. In der Umschreibung
von Jacques Derrida bedeutet archeion: „ein Haus, ein Wohnsitz, eine Adresse,
die Wohnung der höheren Magistratsangehörigen, der árchontes
(...). Jenen Bürgern, die auf diese Weise die politische Macht innehatten
und bedeuteten, erkannte man das Recht zu, das Gesetz geltend zu machen oder
darzustellen. Ihrer so öffentlich anerkannten Autorität wegen deponierte
man zu jener Zeit bei ihnen zu Hause, an eben jenem Ort, der ihr Haus ist (ein
privates Haus, Haus der Familie oder Diensthaus), die offiziellen Dokumente."
* Die archontes sind die Bewahrer und Garanten der Sicherheit des Depots und:
„Sie haben das Recht die Archive zu interpretieren."** Im Archiv
überlagern sich Ort und Gesetz, Nomo- und Topologie. Desweiteren dient
das Archiv, wie Derrida weiter herausarbeitet, der Konsignation, der Versammlung:
„Unter Konsignation verstehen wir nicht nur im geläufigen Sinne des
Wortes die Tatsache, daß ein Wohnort zugewiesen wird, oder daß etwas
zur Aufbewahrung an einem Ort oder auf einem Träger anvertraut wird, sondern
hier verstehen wir darunter den Akt des Konsignierens im Versammeln der Zeichen.
(...) Das archontische Prinzip ist auch ein Prinzip der Versammlung." ***
Die Behörde, in deren Eingangshalle die Künstlergruppe Szuper Gallery das Lift Archiv einrichtete, definiert sich zwar nicht vordergründig als Archiv, doch besteht eine ihrer Aufgaben durchaus darin, Dokumente für das Archiv zu produzieren. Darüberhinaus gibt es Berührungspunkte mit Derridas historischer Ableitung: In Anwendung der bestehenden Gesetze eignet dem Kreisverwaltungsreferat eine, wenn auch von Legislative und Judikative begrenzte, Interpretationsmacht. Diese Macht richtet sich nicht zuletzt auf die öffentliche Sanktionierung des Privaten sei es nun Geburt oder Tod, Heirat oder Grundbesitz, sie richtet sich insbesondere auch auf das Aufenthaltsrecht. Die Stempel der Behörde funktionieren wie eine Eintrittskarte in den öffentlichen Raum, der nun keineswegs, was das Wort „öffentlich" suggeriert, für jedermann zu jeder Zeit zugänglich ist.
Das
Lift Archiv geht mit dem Ort seiner Installation verschiedene Bezüge ein.
Während das Kreisverwaltungsreferat für die öffentliche Ordnung
zuständig ist, beschäftigt sich das Lift Archiv mit Kunst im öffentlichen
Raum, einem Phänomen, das sich in den letzten beiden Jahrzehnten im Diskurs
der Kunst zunehmend etablierte. Als öffentliche Erscheinung unterliegt
die Kunst im öffentlichen Raum den Bestimmungen der öffentlichen Ordnung,
gleichzeitig jedoch kommt ihr ein gewisser Sonderstatus zu. Das Recht auf freie
Meinungsäußerung, dessen Ausübung vom Kreisverwaltungsreferat
reguliert wird, und die gesetzlich garantierte Freiheit der Kunst überlagern
sich zwar, die beiden Felder kommen jedoch nicht vollständig zur Deckung.
Das Lift Archiv ist das, was es thematisiert: Kunst im öffentlichen Raum.
Es entstand im Rahmen klassischer Kunst-am-Bau-Maßnahmen auf Empfehlung
der städtischen Kunstkommission und stellt in München ein Novum dar,
insofern es sich hier nicht um ein abgeschlossenes Werk handelt, sondern um
ein strukturales, bespielbares Objekt, das als Archiv im Laufe der nächsten
Jahre immer wieder neu bestückt und von Veranstaltungen begleitet wird
und dabei den öffentlichen Dialog sucht. Der historische Ausgangspunkt
von Kunst im öffentlichen Raum bestand darin, daß Künstler und
Künstlerinnen Museen und Galerien verließen, um sich jenseits der
institutionalisierten Kunsträume womöglich kontext- und ortsspezifisch
zu verankern. Im Widerspruch hierzu – zumindest auf den ersten Blick –
beharrt Szuper Gallery mit dem Lift Archiv auf dem autonomen Kunstraum. - Ein
parallel zum Lift Archiv entwickeltes Projekt von Szuper Gallery besteht in
einem Wettbewerb, in dem sie Architekten aufforderten, einen transportablen
Galerieraum zu erfinden. – Das Gehäuse des Lift Archivs stellt ein
Derivat des „White Cube" dar, des abgeschlossenen, auf Autonomie
bedachten und möglichst neutralen Kunstraumes. Die dialektische Pointe
des Lift Archiv besteht nun darin, dass es den „White Cube" in einen
„Glass Cube" verwandelt: Das Lift Archiv ist zum einen autonom und
abgeschlossen, zum anderen jedoch transparent, funktional und ortsspezifisch
mimetisch.
Der auf den Lift montierte Glaskubus, greift die Transparenz der gläsernen
Eingangshalle auf, so dass das Archiv nicht nur von der Halle, sondern auch
von der Straße aus einsehbar ist. Wenn das Archiv nach oben gefahren wird,
handelt es sich um einen nicht betretbaren Raum. In dieser Position spielt es
mit dem idealistischen Kunstverständnis, das Kunst in der Höhe einer
erhabenen Geisteswelt ansiedelt, in einer idealistischen Höhe, die durch
den Mechanismus des Liftes konterkariert wird. Im hochgefahrenen Zustand kann
der Raum nicht betreten werden. Er ist dann Schaufenster des Archivs, funktioniert
aber in diesem Zustand wie das dreidimensionales Bild eines Raumes, der mit
seinem Mobiliar an ein Besprechungszimmer erinnert und ein Moment von Privatheit
transportiert. In der Halle des Kreisverwaltungsreferates wirkt das Zimmer im
Glaskasten wie ein Implantat und doch nimmt es als Archiv auf das Archivarische
der Behörde Bezug.
Diese sozusagen autonome Bezugnahme auf den vorgegebenen Kontext entspricht
einer künstlerischen Strategie der Szuper Gallery, die sie bereits in verschiedenen
anderen Kontexten verfolgte und die darauf zielt, die in den Kontexten verkörperte
Macht zu irritieren. In der Münchner Börse etwa ließen sie englische
Texte des Börsengurus Georges Soros von zwei nicht englisch sprechenden,
ukrainischen Kinder sprechen, in den Räumen der Londoner Finanznachrichtenagentur
Bloomberg agierten sie so, dass ihre sinnlos erscheinenden Handlungen in Kontrast
zur ökonomischen und medialen Rationalität der Umgebung standen. Die
scheinbare Absurdität der Aktionen affizierte die Umgebung, wobei am Ende
unklar blieb, wer eigentlich irrational ist, die Umgebung oder die Akteure.
Als Schlüsselarbeit zum Verständnis dieser künstlerischen Strategie
kann eine Fotoserie betrachtet werden: Sie zeigt die KünstlerInnen der
Galerie Szuper in Polizeiuniformen – Lederkleidung wie sie die Motorradpolizei
trägt – in einem privaten Wohnraum. Die in der Polizei verkörperte
öffentliche Macht prallt auf die private Umgebung. Die Posen der PolizistInnen
lassen sich allerdings nicht entschlüsseln. Üben sie ihren Beruf aus,
entspannen sich sie, posieren sie als Modells? Die Anwesenheit öffentlicher
Macht in der privaten Umgebung produziert hier eine unauflösbare Irritation.
Die Interpretationsmacht, auf der Archive gewöhnlich basieren, erweist
sich in dem so produzierten hermeneutischen Ausnahmezustand als ohnmächtig.
Das Mobiliar des Lift Archivs verleiht ihm andeutungsweise private Züge.
Diese Privatheit drängt im Foyer des Kreisverwaltungsreferates zur Öffentlichkeit.
Das latent Geheime des Archivs wird durchbrochen. Was Derrida in Bezug auf die
Versammlung der Zeichen im Archiv feststellt findet eine spezifische Wendung
hin zu einer Versammlung von Personen. Durch seine Zurschaustellung wendet sich
das Lift Archiv an die Öffentlichkeit, ebenso durch seine Eröffnungsveranstaltungen
und nicht zuletzt durch das Internet. Eine Website und ein Terminal im Kreisverwaltungsreferat
erlaubten die dialogische Partizipation, sie wiederum soll zu einem Bestandteil
des Lift Archivs werden.
* Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben, Berlin 1997, S.11
** S.11
** S.13