Eine Probe auf die Gestaltungsspielräume in einer Behörde
von Michael Hauffen
Auf Einladung von LIFTARCHIV fand ein Auftritt von Schleuser.net im Kreisverwaltungsreferat
der Landeshauptstadt München statt. Die Funktion dieser Behörde ist
es nicht nur, den „Bürgern“ der Stadt verwaltungsspezifische
Dokumente auszustellen und die dazugehörigen Daten zu verwalten, sondern
sie hat auch Anträge auf Zulassung zu diesem Bürgerstatus zu bearbeiten
und dabei Antragsteller zurückzuweisen. „Bürger“ bezeichnet
in diesem Sinn einen Status, der als Komplement zur Bürokratie fungiert.
Als Antwort auf Kritik und Misstrauen, mit dem spätestens seit Max Weber
die Bürokratisierung der Gesellschaft bedacht wird, bemüht sich diese
Behörde heute um Akzeptanz bei ihren Kunden, den Bürgern. Im Zuge
dieses Trends, der analog zu einer allgemeineren Leitvorstellung von Kundenfreundlichkeit
gesehen werden kann, beschloss die Stadtverwaltung vor ein paar Jahren eine
bauliche Veränderung, die in Form eines hellen und nach außen offenen
Foyers – an der architektonischen Grenze von Innen nach Außen also
– den freundlichen Empfang der Bürger sinnfällig werden lassen
sollte. Dafür wurde auch eine künstlerische Ausgestaltung eingeplant,
wobei die Tatsache entscheidend sein dürfte, dass es zum guten Ton eines
Kundenservice inzwischen auch gehört, Zeichen der Offenheit für individuelle
Ansprüche zu setzen – und was wäre dafür besser geeignet
als Kunst?
Allerdings beziehen
sich diese Anstrengungen nicht auf die andere oben genannte Funktion. Hier steht
dem Trend zu mehr „Bürgernähe“ ein anderer Trend zu schärferer
Zurückweisung von Nicht-Bürgern gegenüber. Bei Nicht-Bürgern
von Ansprüchen auf Selbstverwirklichung, Kreativität oder Neugier
zu sprechen, dürfte eher abwegig erscheinen angesichts des Mangels an elementaren
Voraussetzungen für individuelle Spielräume zur Lebensgestaltung.
Die Bandbreite von Alternativen zur Rolle des geduldigen Antragstellers (mit
wenig Hoffnung auf Zukunft) ist hier so gering, dass an ein Interesse an Kunst
wohl kaum zu denken sein kann.
Die für die Auswahl der Kunst an diesem Ort zuständige Kommission
des Baureferats entschied sich allerdings mit LIFTARCHIV von Szuper Gallery
für ein Konzept, das genau diesem verdeckten Aspekt der Umgestaltung des
Verhältnisses zwischen Bürokratie und Individuen große Aufmerksamkeit
schenkt. Mit der Beobachtung dieser dunklen Seite des Bürgerstatus geht
dabei die Suche nach Alternativen zur herrschenden Ordnung einher, was zunächst
allerdings vor allem zu bedeuten scheint: die Suche nach möglichen Formen
von Widerstand.
Die dunkle Seite des Bürgerstatus muss man es auch deshalb nennen, weil
sich die Komplementärrollen von Bürgern und bürokratischer Organisation
weniger auf einen transparenten Diskurs oder rationalen Konsens, als auf stillschweigende
Anerkennung von Verhältnissen gründen, und vermutlich gerade damit
ihre grundlegende Funktion gewinnen. Wenn demgegenüber Dissens artikuliert
wird, kann das umgekehrt zunächst nicht als verbindliche Kritik im Horizont
allgemeiner Probleme wahrgenommen, sondern muss als potentielle Bedrohung einer
Struktur, an die sich die Gesellschaft angepasst hat, und die sich als möglichst
abgesicherte Normalität von selbst verstehen soll, eingestuft werden.
Auf diese Unmöglichkeit von sachlichen Diskursen antwortet das Konzept
von Schleuser.net deshalb mit einer ästhetischen Strategie der Umwertung
von Symbolen. Mit der Installation „Brauchen wir wirklich einen neuen
Anti-Imperialismus?“ formulieren und manifestieren sie keine (wie auch
immer inszenierte) direkte Kritik gegen eine Institution, sondern führen
selbst eine Organisation ein, die den Grenzverkehr an dieser systematischen
Stelle in Bewegung bringt.
In einem ersten Schritt vermeiden sie es also, die zu erwartenden „normalen“
Abwehrreaktionsmuster auszulösen, und stellen stattdessen eine Situation
her, in der diese selbst irritiert werden. Weder begeben sich Schleuser.net
in eine bloße Gegenposition zu dieser oder irgendeiner anderen sozialen
Realität, noch spielen sie einfach die Opfer-Karte aus, womit sie jeweils
die Rolle der Organisation implizit bestätigen würden, sondern sie
treten demonstrativ selbst als kundenfreundliche und in ein Netzwerk von Aktivitäten
integrierte Institution auf, die an einer Optimierung sozialer Mobilität
und Homöostase – also eigentlichen Standard-Ansprüchen moderner
Gesellschaften – arbeitet.
In Bezug auf ihren Kundenkreis positionieren sie sich zwar außerhalb der
Grenze, die die Bürger und ihre Normalität vom Rest der Welt trennt,
und sie beschäftigen sich praktisch und theoretisch mit den Fragen, die
sich nur hier stellen. Aber sie bringen hierbei Verfahrensweisen zum Einsatz,
die auf der Innenseite der Grenze jene Normalität geradezu verkörpern:
Sie bieten einen kundenfreundlichen Service an, für diejenigen, die über
die Grenze wollen; sie erarbeiten, sammeln und archivieren Information und Wissen,
das dafür verwertbar ist, und geben sich die Form einer Organisation, die
diese Information im politischen Feld im Namen ihrer (potenziellen) Mitglieder
zur Geltung bringt. Damit behandelt Schleuser.net diejenigen, die von den normalen
bürgerlichen Rechten und Möglichkeiten ausgeschlossen sind, in jenem
unausgesprochenen Sinn bereits als Bürger, für die offiziell gesorgt
wird. Anders gesagt bieten sie sich damit als eine Art Supplement an, das den
Aufgabenbereich der Behörden nur erweitert und vervollständigt.
Natürlich bleibt dieses dekonstruierende Spiel mit einer Grenze, die in
jeder sozialen Operation, welche sich auf sie bezieht, zugleich gewahrt und
neu gezogen wird, nicht unbemerkt. Vom Standpunkt des unter der Bürokratie
leidenden Individuums kann man die geschickte Wendung gegen eine ihrer Schwachstellen
genießen, während aus der Perspektive derer, die um Absorption von
sozialer Unsicherheit besorgt sind, hier bereits sensible Marken tangiert werden.
An dieser Stelle agierten Schleuser.net allerdings nicht gerade behutsam, sondern
haben mit dem Reizwort „Anti-Imperialismus“ in ihrem plakativ inszenierten
Titel das System der Frühwarnsensoren direkt provoziert.
Kaum verwunderlich ist, dass in einer Behörde wie dieser dann auch eine
Gegenreaktion ausgelöst wurde, eher vielleicht, dass diese so vorsichtig
ausfiel: In aller Stille wurde der empfindliche Schriftzug und die dazugehörige
Installation abgedeckt und niemand wurde offiziell zunächst von dem Vorgang
informiert. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist dies im Hinblick auf zu befürchtende
Turbulenzen zu verstehen, die sich daraus ergeben könnten, dass andere
Behörden (hier insbesondere die Baubehörde als Schutzherr der von
ihr ausgewählten Kunst), die Presse bzw. die KünstlerInnen von Schleuser.net
wiederum reagieren, und damit einen Konflikt generieren, der größere
Wellen schlägt, als es dem Ideal des fraglosen Weiteroperierens angenehm
sein kann.
Den KünstlerInnen ging es aber in Bezug auf diese mehr oder weniger erwartbaren
Manöver nicht so sehr darum, auf einer bestimmten Manifestation zu bestehen,
als vielmehr die faktischen Handlungen, Sensibilitäten und Spielräume
als Elemente eines dynamischen Zusammenhangs auszuloten, in dem Grenzen nicht
nur verteidigt, sondern permanent reproduziert werden müssen. Welche Operationen
die Beteiligten dabei vornehmen, oder wie sie sich in solch einem mehrdeutigen
Feld von Optionen entscheiden, ist deshalb nur solange kalkulierbar, wie an
jeweils von der anderen Seite erwarteten Mustern festgehalten wird. Insofern
ist das Agreement, das zwischen LIFTARCHIV/Schleuser.net und ihrer gastgebenden
Behörde getroffen wurde, dass es sich bei deren Reaktion nicht um Zensur,
sondern um eine Kunstaktion gehandelt habe, eine überraschende Neuinterpretation
für den regelmäßigen Fall, dass der freie künstlerische
Ausdruck von Seiten der Bürokratie behindert wird. Aus der Perspektive
der Kunst dürfte hieran vor allem interessant sein, dass damit der Spannungsbogen
einer symbolischen Intervention aufrechterhalten wurde, die den Blick auf die
Mehrdeutigkeit sozialer Abstimmungsprozesse lenkt. Gerade wenn einer der Beteiligten
eine Institution von scheinbar ungebrochener Solidität ist, kann dieses
Resultat die Erwartung konkretisieren, dass über die mögliche Ordnung
moderner Gesellschaften noch nicht endgültig entschieden ist.